Grundlage für das Verstandesgebäude, für Wissen, Erholung, Gesundheit, ist die Stille. Sie ist der tragende Balken. Lärm zersetzt uns. Macht uns verrückt. Und tatsächlich leben wir in einer Welt, in der der Ausverkauf der Stille bereits stattgefunden hat.
Aus: Der Nachbar von Patrícia Melo, Seite 149
Das verrät der Klappentext: Teuflisch krachend dringen die Geräusche des Nachbarn durch die Decke, bohren sich durchs Trommelfell, zerfetzen die Ruhe. Ein Plan muss her, der Frieden zurück. Eine offene Tür, ein falscher Schritt – und plötzlich findet sich der Geplagte mit einer Leiche wieder. [Text: Unionsverlag]
Mein persönlicher Leseeindruck: Höllenlärm. Tagein, tagaus. Was tun, wenn der Krach des Nachbarn einem den Schlaf, die Nerven und schlussendlich den Verstand raubt? Wie weit geht man, um endlich wieder Ruhe einkehren zu lassen?
Der Protagonist und Ich-Erzähler des knapp 160 Seiten dünnen Kriminalromans von Patrícia Melo ist Biologe, Lehrer, Ehemann und Vater. Seit der neue lärmende Nachbar über ihm eingezogen ist, ist er jedoch vor allem eines: wütend. Der Nachbar lässt nicht mit sich reden, ja, vielmehr scheint das Gepolter im oberen Stockwerk immer noch lauter zu werden … und der entnervte, sich macht- und ruhelos fühlende Protagonist verliert sich immer mehr in seiner Verzweiflung, seiner Wut und Tagträumen voller Gewalt, in denen er das Klappern und Trampeln, das Klopfen und Stöhnen des verhassten Nachbarn ein für allemal verstummen lässt.
Vom religiösen Standpunkt aus gesehen würde ich sagen, Krach ist das uns bekannteste Attribut des Teufels.
Aus: Der Nachbar von Patrícia Melo, Seite 65
Am Tiefpunkt dieser Abwärtsspirale aus Wut und Rachefantasien gerät die Situation endgültig außer Kontrolle und was der nach Stille Gierende sich bisher bloß in Gedanken ausgemalt hat, findet in einer blutigen Eskalation seine schaurige Verwirklichung. Dies geschieht so unvermittelt und plötzlich und nimmt trotz aller Brutalität in der Geschichte so wenig Raum ein, dass man als Leser beinahe darüber stolpert. Der Spannungsbogen wird hier nicht bis ins Unerträgliche gedehnt. (Fast wünscht man sich manchmal, er würde etwas straffer gezogen.) Der Protagonist ist auf Autopilot: Beunruhigend unaufgeregt lässt er uns an seinen Gedanken teilhaben und erzählt von den technischen und logistischen Problemen, denen man sich gegenübersieht, wenn man unverhofft in die Lage gerät, eine Leiche sang- und klanglos – und dauerhaft – verschwinden lassen zu müssen.
Tatsächlich ist Hass ein Zeitvertreib wie jeder andere. Und angesichts eines gewöhnlichen Lebens ohne Höhepunkte gewährleistet uns ein wohlgenährter Hass zumindest große Gefühle. Ich für meinen Teil finde, hassen ist besser, als gar nichts zu empfinden.
Aus: Der Nachbar von Patrícia Melo, Seite 35
Der überwiegend ruhige, sachliche Sprachduktus des Ich-Erzählers, der einerseits ein Analyst mit messerscharfem Verstand ist und dennoch vollkommen weltverloren wirkt, lässt den Roman zum einen merkwürdig spannungs- und höhepunktlos wirken, zum anderen trägt gerade er stark dazu bei, das entrückte Wesen des Protagonisten besser zu fassen zu bekommen.
Doch nicht nur im Haus des Protagonisten ist Stille ein rares Gut: Auf den Straßen Brasiliens wird lautstark gestreikt, in den Schulen herrschen Chaos und Gewalt, und auch Marta, seine Ehefrau, liegt ihm ständig in den Ohren mit den Geschichten aus ihrer Arbeit im Krankenhaus, die er nicht hören will. So bekommt man Einblicke in die Missstände eines Landes, in die Ruinen einer nur noch von Gewohnheit getragenen Ehe und in die Abgründe im Inneren eines Mannes.
Ich bin nicht der Typ der Streit sucht. Ich vermerke alles in meinem geistigen Notizheft. Dort führe ich meine schwarze Buchhaltung. Mangelnde Zuneigung, Grobheiten, versagte Gefallen oder abgeschlagene Bitten, all das wird sorgfältig registriert. Die Quittung kommt am Tag X. Für diesen eine Lektion in Moral. Für jenen eine doppelte Portion Ironie. Alle, die austeilen, bekommen ihr Fett weg. So verfahre ich.
Aus: Der Nachbar von Patrícia Melo, Seite 23
Während in vielen Krimis das Whodunnit-Moment eine prominente Rolle einnimmt und das Augenmerk auf das Finden und Fassen des Kriminellen gelegt wird, verfolgt Patrícia Melo ein völlig anderes Konzept, fernab vom bekannten Katz-und-Maus-Spiel zwischen Behörden und Delinquenten.
Der Nachbar-Mörder wird verhaftet; doch wo viele Kriminalromane enden und der Leser mit dem wohligen Gefühl entlassen wird, dass der Gerechtigkeit genüge getan wurde, nimmt dieser Roman nochmal an Fahrt auf: Aus Sicht der Hauptfigur erleben wir die mit der Verhaftung einsetzende Maschinerie der Bürokratie und Presse, die Gerichtsverhandlung, das Leben im Gefängnis, – die Stille im Gefängnis! – und ein Gefühlsspektrum zwischen allzu Menschlichem und verstörender Manie.
Wenn man außer dem eigenen Herzschlag nichts als den regelmäßigen Rhythmus des eigenen Atems hört, begreift man, dass man allein ist.
Aus: Der Nachbar von Patrícia Melo, Seite 109
Fazit: Ein Roman über den Lärm um und in uns. Der Nachbar ist die klug erzählte Geschichte eines Mannes, der nach und nach begreift, dass es viele Arten von Stille gibt und dass die Art von Ruhe, nach der er sich am meisten sehnt, nur wenig mit der Abwesenheit von Lärm zu tun hat. Wer auf atemlose Spannung hofft, wird hier sicherlich enttäuscht. Wer Freude an subtilerem Thrill und einem realistischen Plot – der einen den eigenen Nachbarn mit ganz neuen Augen sehen lässt – hat, kommt mit diesem lateinamerikanischen Kriminalroman jedoch voll auf seine Kosten.