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[Rezension] Das Geheimnis der Muse von Jessie Burton

Freitag, 27. August 2021



Die Meinung, dass nur ein Mann zur wahren Kunst berufen sein konnte, war so weit verbreitet, dass Olive es manchmal sogar selbst glaubte.
Aus: Das Geheimnis der Muse von Jessie Burton, 74–75

Das verrät der Klappentext: London 1967 und Andalusien 1936: zwei junge Frauen, eine schicksalhafte Begegnung und ein Gemälde, das ein aufsehenerregendes Geheimnis birgt – eine fesselnde und betörende Geschichte um große Ambitionen und noch größere Begierden. Textrecht: Insel Verlag

Vor einigen Jahren durfte ich Jessie Burtons „Die Magie der kleinen Dinge“ lesen – ein Roman der durch hervorragende Hintergrundrecherchen, eine bildhafte Erzählweise und ein außergewöhnliches Figurenensemble glänzte und eine so bewegende und magische Geschichte erzählte, dass ich mir vornahm, die Autorin weiterhin im Auge zu behalten. Gesagt, getan. Ob Das Geheimnis der Muse ebenso überzeugen konnte wie das Debut der Autorin? …


Nicht jeder erhält am Ende, was er verdient.
Aus: Das Geheimnis der Muse von Jessie Burton, 13



In Das Geheimnis der Muse erzählt Jessie Burton die Geschichte von zwei Frauen, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten leben, deren Schicksale aber dennoch auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden scheinen. Dabei bewegt sich das Erzählte zwischen Künstlerroman, Familiensaga und Historiendrama. Das Buch deckt damit vielerlei Lektürevorlieben ab, ist jedoch eines zu keiner Zeit: ein Wohlfühlbuch.

Kurz vor Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs in den 30er Jahren träumt die junge, wilde Olive Schloss unter der gleißenden Sonne Andalusiens davon, als Malerin ihrer Liebe zur Kunst zu folgen – als Frau wird ihr künstlerisch-schöpferisches Genie jedoch rundheraus abgesprochen. Doch ebenso sehr wie Liv nach Anerkennung und Freiheit strebt, kettet sie sich und ihre Kunst – ihre ganze Identität – an einen Mann.

Im London der 60er Jahre kämpft die aufstrebende Schriftstellerin Odelle Bastien aus Trinidad mit anderen Vorurteilen: Das Bild, das sie sich auf ihrer Heimatinsel vom vermeintlich schillernden, weltoffenen London gezeichnet hat, entpuppt sich als Trug. Als sie eine Stelle in einer namhaften Londoner Kunstgalerie erhält, entdeckt sie in einem verschollen geglaubten Gemälde des spanischen Malers Isaac Robles – ein Sensationsfund! – nach und nach die bruchstückhafte Geschichte der vergessenen Olive Schloss.


Sie sahen es nicht kommen, natürlich nicht. Wer will schon jeden Tag Ausschau halten nach einem vielleicht drohenden Unheil? Man verschließt die Augen davor, solange es geht.
Aus: Das Geheimnis der Muse von Jessie Burton, 296



Der Roman besticht durch die dramaturgisch raffinierte Verflechtung der Handlungsstränge, die besondere Ausgefeiltheit der jeweiligen Settings und atmosphärische Dichte. Wie in ihrem Debut beweist Jessie Burton auch hier ein besonderes Gespür für die Ären, in denen sich die Handlungen abspielen, und lässt einen – ganz ohne mit der Brechstange vorzugehen – die politisch-sozialen Gegebenheiten und zwischenmenschlichen Spielregeln der Zeit erahnen.

Gekonnt bringt Burton Geschlechterdiskurse aufs Tapet und skizziert am Beispiel der beiden ProtagonistInnen das zermürbende – bis heute nicht gänzlich abgelegte – Verständnis der Geschlechterrollen und die bis weit ins 20. Jahrhundert reichende Vorstellung, dass Frau-Sein und Künstlerschaft einander ausschlössen. Das enge Korsett in das Frauen gepresst werden, das ihnen die Luft zum Atmen und Möglichkeiten der freien Entfaltung raubt, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichten der weiblichen Figuren. Während man als LeserIn verfolgt, welche (Um- und Irr-)Wege die Protagonistinnen einschlagen, entfaltet sich im Roman ein Gesellschaftspanorama, das tief in die Seele und Vergangenheit Europas blicken lässt.

Mit Das Geheimnis der Muse gelingt Burton ein weiteres Mal ein gut komponierter, sprachlich herausragender Roman, der den Leser aus der Komfortzone reißt.


Das Geheimnis der Muse von Jessie Burton
Originaltitel: The Muse | Übersetzung: Peter Knecht | Taschenbuch, 461 Seiten |
Insel Taschenbuch | ISBN: 978-3-458-36329-3