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[Rezension] Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman

Donnerstag, 30. Juli 2020



„Wenn ich in meinem Buch las, hatte ich vor nichts Angst.“
Aus: Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman, Seite 74

Das sagt der Verlag: Anlässlich einer Beerdigung kehrt ein Mann mittleren Alters in seinen Heimatort zurück. Das Haus, in dem er aufwuchs, steht längst nicht mehr, doch es zieht ihn zu der Farm am Ende der Straße. Hier lebte früher Lettie Hempstock mit ihrer Mutter und Großmutter. Der Mann hat seit Jahrzehnten nicht mehr an die außergewöhnliche Lettie gedacht. Doch nun kehren die Erinnerungen wieder zurück: an den Ententeich, der angeblich ein Ozean sein soll.


Ich sehne mich nicht nach meiner Kindheit, aber ich sehne mich nach der Freude, die ich früher an kleinen Dingen fand, selbst wenn weit wichtigere Dinge im Argen lagen. Ich hatte keine Macht über die Welt, in der ich lebte, ich konnte nicht vor Dingen oder Menschen oder Augenblicken fliehen, die mir wehtaten; aber ich freute mich über die Dinge, die mich glücklich machten.
Aus: Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman, Seite 199

Persönlicher Leseeindruck: Als ich klein war, lebte ich mit meiner Familie in einer kleinen Wohnung in deren Gang die alte Hammondorgel meines Vaters stand. Das Pedal der Orgel war in einer Aussparung angebracht, die wie ein kleines schwarzes Loch im Instrument klaffte. Meinen Schwestern und mir diente das schwarze Loch in der Elektro-Orgel als gut getarntes Versteck  für Edelsteine und unbezahlbare Kostbarkeiten und Schätze (Dabei handelte es sich im Wesentlichen um Murmeln in jeder Form und Farbe und Kaugummis aus dem Automaten um die Ecke, die 10 Groschen (!) kosteten und bei Nicht-Kennern ebenfalls als  Murmeln durchgingen. Jedenfalls eine Zeit lang.).

Irgendwann träumte ich, ich könnte durch das Loch ins Innere der Hammond kriechen und dort würde sich mir Narnia-like eine ganz neue Welt auftun. Am nächsten Morgen kraxelte ich aus dem Stockbett, schlich in den Gang und war überzeugt davon, ab sofort regelmäßig von dem neu entdeckten Portal Gebrauch machen und eine völlig neue Welt hinter dem Klavier erkunden zu können.

Der langen Rede kurzer Sinn? Auch wenn das mit dem Erkunden der Welt hinter der Hammondorgel – soweit ich mich entsinne (?) – nicht geklappt hat, erinnere ich mich noch genau an dieses Gefühl aufgeregter und absoluter Gewissheit, dass bei uns zwischen Wohnzimmer und Bad etwas Magisches im Gange war. Meistens bin ich zu sehr damit beschäftigt so zu tun, als wäre ich erwachsen und dann vergesse ich, dass ich eine geheime Abkürzung in eine Parallelwelt kenne. Aber in den Momenten, in dem das Erwachsene-Imitieren (Tarnen und Täuschen!) mich nicht völlig einnimmt und die Magie im Keim erstickt, bin ich noch immer überzeugt davon, dass hinter dem Klavier meines Papas das Abenteuer zu Hause ist. Dieses Gefühl in Worte gepackt: Das ist der Stoff, aus dem „Der Ozean am Ende der Straße“ gemacht ist.


„In jener Nacht, in jenem Haus, träumte ich seltsame Dinge. Ich wachte in der Finsternis auf und wusste nur: Mir hatte ein Traum solche Angst eingejagt, dass ich aufwachen oder sterben musste.“ 
Aus: Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman, Seite 143



Von bösen Zaubern, wackeren Weggefährten, den albtraumhaft-gesichtslosen Schrecken der Nacht, vom Vergessen und Erinnern, den leider realen – aber nicht minder unglaublichen – Grässlichkeiten des Alltags und der Magie mancher Orte, die sich oft nur Kindern offenbart, handelt „Der Ozean am Ende der Straße“ von Neil Gaiman – ein Stück Fantasyliteratur, das ich zum Außergewöhnlichsten zähle, was ich in den letzten Jahren aus dem Genre in die Hände bekommen habe.


„Es ist wirklich schwer, etwas aus der Zeit herauszuschneiden. Man muss darauf achten, dass die Ränder genau übereinanderliegen, und nicht mal Gramma kriegt das immer hin. Jetzt wäre das außerdem noch viel komplizierter. Was du da in deinem Herzen hast, das ist real. Ich glaube, nicht mal Gramma könnte das rausschneiden, ohne dir ernstlich zu schaden. Schließlich brauchst du dein Herz.“
Aus: Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman, Seite 202

Die Rahmenhandlung beschreibt die Rückkehr eines Mannes zu dem Ort, an dem er seine Kindheit verbracht hat. Eine unsichtbare Kraft zieht ihn zum Grundstück der Hempstocks, wo früher seine Freundin Lettie mit ihrer Mutter und ihrer kratzbürstig-gutmütigen Grandma lebte. Dort, auf der Bank beim Ententeich kommen nach und nach die Erinnerungen wieder an einen Sommer, in dem die Zeit verloren ging, unheimliche Gestalten ihr Unwesen trieben und Lettie den kleinen Teich zu einem Ozean werden ließ, der in einen Eimer passte.
All das wird retrospektiv aus der Sicht des siebenjährigen Protagonisten erzählt, welcher auf kindlich-ehrliche und nicht selten etwas makabre und witzige Weise auf die Dinge blickt und so den Leser ganz unmittelbar und ungefiltert am Geschehen und seinem Empfinden teilhaben lässt. Gerade weil mit Kinderaugen auf die rätselhaften Ereignisse jenes Sommers geblickt wird, lädt die Lektüre zum Mitfiebern und -bangen, aber auch zum Schmunzeln ein.


„Wir saßen nebeneinander auf der alten Holzbank und schwiegen. Ich dachte über Erwachsene nach. Ob das wohl stimmte: Waren sie wirklich alle Kinder in erwachsenen Körpern, wie Kinderbücher, die sich in dicken, langweiligen Büchern versteckten? In Büchern ohne Bilder und Gespräche?“
Aus: Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman, Seite 150

„Der Ozean am Ende der Straße“ hat das mulmig aufgeregte Gefühl, das ich als kleines Kind hatte, wenn ich an die unbekannte Welt hinter der Orgel dachte, mich das gruselige Jesus-Bild im Wohnzimmer meiner Oma mit den Augen zu verfolgen schien oder nachts über mir die Balken knarzten und ich heilfroh über das kleine Nachtlichtlein neben meinem Bett war, auf herausragende Weise eingefangen und in die außergewöhnliche Geschichte eines Sommers gepackt, in dem die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen, Unmögliches möglich und Freundschaft zur magischen Geheimwaffe wird. Poetisch gestrickter Schauer vom Feinsten.


„Ich wollte dieses Gestern wiederhaben, unbedingt.“
Aus: Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman, Seite 143



Was der Fantasie des jungen Protagonisten entspringt, Resultat kindlicher coping mechanisms ist oder tatsächlich eine Begegnung der dritten Art bleibt schlussendlich weitgehend offen und dem Leser überlassen. Gerade dieser Spagat zwischen übersinnlichem und realem Spuk, der den Gedanken Bewegungsfreiraum lässt, verleiht diesem Roman unterschwellig brodelnde Spannung, etliche Schockmomente und jede Menge Witz.

Die schließende Klammer der Rahmenhandlung ist ausgefuchst und brillant gelöst. Das größte literarische Kunststück, das ein_e SchriftstellerIn vollbringen kann, ist es – in my humble opinion – dem Leser Fragen mitzugeben, die keine Lücken, sondern restlose Begeisterung und ein Fünkchen Neugier hinterlassen und einladen, die Geschichte als Drehbuch fürs Kopfkino weiterzuschreiben. Und das ist hier auf unvergleichliche Weise gelungen.


„Ich erzähle dir jetzt etwas Wichtiges. Erwachsene sehen im Inneren auch nicht wie Erwachsene aus. Äußerlich sind sie groß und gedankenlos, und sie wissen immer, was sie tun. Im Inneren sehen sie allerdings aus wie früher. Wie zu der Zeit, als sie in deinem Alter waren. In Wirklichkeit gibt es gar keine Erwachsenen. Nicht einen auf der ganzen weiten Welt.“ Sie dachte einen Moment lang nach. Dann lächelte sie. „Außer Gramma natürlich.“  
Aus: Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman, Seite 150

Fazit: Der Grusel, der sich durch diesen Roman zieht, ist schaurig-schön, von der leisen Sorte. Der Schrecken lauert zwar immer zwischen den Zeilen, wird aber nie splatterhaft und ist auch nicht übertrieben actiongeladen, sondern beinahe poetisch.



Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman
Originaltitel: The Ocean at the End of the Lane Übersetzung: Hannes Riffel
Gebundene Ausgabe, 240 Seiten Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG ISBN: 978-3-8479-0579-0



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