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[Rezension] We were liars von E. Lockhart

Dienstag, 25. August 2020

Rezension: We were liars von E. Lockhart


She is sugar, curiosity, and rain.
Aus: We were liars von E. Lockhart, Seite 8

So wenig verrät der Klappentext: We are liars. We are beautiful and privileged. We are cracked and broken. A tale of love and romance. A tale of tragedy. Which are lies? Which is truth? You decide. [Textrecht: Hot Key Books] 


Persönlicher Leseeindruck: In We were liars erzählt E. Lockhart von einer besonderen Liebe, vom Geheimnis einer in Schweigen gehüllten Familie, von Rebellion, vom Vergessen und Vermissen. 

Auf etwas mehr als 200 Seiten entfaltet sich – erzählt aus der Perspektive der jugendlichen Protagonistin Cadence – die Geschichte der gut betuchten Familie Sinclair, die jeden Sommer gemeinsam auf einer Privatinsel unweit von Massachusetts verbringt. Drei Generationen treffen dort aufeinander: In den vier Villen, die sich auf der Insel befinden, wohnen Cadences Großeltern, ihre eigene Familie und die Familien der beiden Schwestern ihrer Mutter. Dabei nutzen vor allem die älteren Generationen die Zeit auf der Insel nicht nur, um sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen und in den salzigen Fluten zu planschen; sie schwimmen vor allem auch im Geld, um das sie sich unaufhörlich streiten. Währenddessen verbringt Cadence die Sommertage vor allem mit ihrem Cousin Johnny, ihrer flamboyanten Cousine Mirren und dem klugen, sanften Gat – dem Neffen des Lebenspartners ihrer Tante, der aus Südasien und ärmlichen Verhältnissen kommt. Die Liars – so werden Cady, Gat, Johnny und Mirren genannt – sind unzertrennlich, bis an einem Sommerabend Schreckliches geschieht und nichts mehr ist, wie es war. 

Gleich zu Beginn des Romans erhält der Leser einen Hinweis darauf, dass Tragisches geschehen ist: „My story starts before the accident.“ Besagter Unfall liegt zum Zeitpunkt, in dem die Erzählung einsetzt, also bereits in der Vergangenheit; was aber genau geschehen ist, hängt lange nur wie eine böse Ahnung, wie ein Damoklesschwert im Nebel über der Handlung. Erst auf den letzten Seiten wird das Geheimnis gelüftet, was geschehen ist, was Familie und Freunde Cadence seit ihrem Unfall vor zwei Sommern, an den sie jede Erinnerung verloren hat, verschweigen. Gerade als man sich als Leser in Sicherheit wiegt und glaubt, zu durchschauen, was vor sich geht, legt die Handlung eine Vollbremsung und anschließende 180°-Wende hin. Vollkommen unvorhersehbar, absolut zerstörerisch, brillant umgesetzt. 


We stay like that, enfolded in each other’s arms, for a minute or two, 
and it feels like the universe is reorganizing itself. 
Aus: We were liars von E. Lockhart, Seite 130

Lockharts Roman ist ein Kaleidoskop aus Coming of Age, Familientragödie, Charakterstudie, Generationen- und Liebesroman, berührt dabei Themen wie Rassismus, familiäre Kontrolle und Abhängigkeit, elitärer Snobismus und Traumatisierung – ohne dabei überladen zu wirken. Vielmehr lässt Lockhart durch die außergewöhnliche Sprache und die perfekt aufeinander abgestimmten Handlungsstränge eine Sogwirkung entstehen, die mich immer wieder nach Luft schnappen ließ, nur um dann noch tiefer in diese wundervoll-tragische Geschichte eintauchen zu wollen. 

We were liars durchspielt die ganze Bandbreite an Emotionen: Verwirrung, abgrundtiefe Trauer, schmetterlingleichte Verliebtheit, Erleichterung, unbändiger Zorn. Die durchleben jedoch nicht nur die jungen ProtagonistInnen Mirren, Johnny, Cady und Gat, sondern auch der Leser wird diesem Gefühlssturm gnadenlos ausgesetzt. Jedoch nicht nur die packende Handlung reißt mit; vor allem wie erzählt wird – in Farben und Düften, Erinnerungen und leisen Hoffnungen, mal ganz leise, dann brüllend laut –, ist der Grund dafür, dass man gebannt an den Buchstaben hängt wie an den Lippen eines begnadeten Geschichtenerzählers. 


I took the pen out of his hand – he always read with a pen – and wrote Gat on the back of his left, and Cadence on the back of his right. He took the pen from me. Wrote Gat on the back of my left, and Cadence on the back of my right. I am not talking about fate. I don’t believe in destiny or soul mates or the supernatural. I just mean we understood each other. All the way. 
Aus: We were liars von E. Lockhart, Seite 14 

We were liars von E. Lockhart


Man inhaliert die Zeilen förmlich; einige tun weh, manche sind tröstend wie eine Tasse warmer Kakao nach einem zermürbenden Tag, viele sind purer Sonnenschein. Als würde man ein über 200 Seiten langes Gedicht lesen, das die Seele streichelt und gleichermaßen an ihr zerrt, schnörkellos, aber poetisch. 

We were liars ist lyrische Prosa, die sprachlich überzeugt, von einer gelungenen Mischung aus character- und plot-driven Elementen lebt und Themen Raum gibt, die vielleicht ungemütlich sind, deren Thematisierung aber gerade deshalb umso wichtiger ist. 

 
It tasted like salt and failure. 
Aus: We were liars von E. Lockhart, Seite 5 

Fazit: Solltet ihr irgendwann in die (wenn auch zugegeben eher unwahrscheinliche) Lage kommen, auf eine einsame Insel zu reisen und nur ein einziges Buch mitnehmen zu dürfen: Es sollte dieses sein. 



We were liars von E. Lockhart 
Taschenbuch, 227 Seiten, Englisch | Hot Key Books | ISBN: 978-1-4714-0398-9