"Das ist hier wie in so 'ner Abenteuergeschichte."Aus: Herr der Fliegen von William Golding, Seite 30
Kleine Warnung vorab: Bereits der Klappentext spoilert ungeniert und auch ich hätte besser früher aufhören sollen. Steinigt mich bitte nicht, das Buch ist trotzdem 1) anders und 2) als ihr denkt.
Das schreibt der Verlag: Eine Gruppe
englischer Schuljungen gerät infolge eines Flugzeugunfalls auf eine unbewohnte
Insel im Pazifischen Ozean. Kein Erwachsener überlebt. Zunächst erscheint der
Verlust zivilisatorischer Ordnungsprinzipien leicht zu bewältigen: auf der
Insel gibt es Wasser, Früchte, sogar wilde Schweine, die erlegt werden können.
Ralph lässt Hütten bauen, erkundet die Insel, richtet einen Wachdienst für das
Signalfeuer ein. Der gute Anfang aber führt in eine Krise, die bald diabolische
Formen annimmt. Aus der Jagd wird blutiges Schlachten – die Jäger und die Hüter
des Feuers geraten in einen Kampf um Leben und Tod. Die Gemeinschaft zerfällt,
Terror und barbarische Primitivität gipfeln in Machtrausch, der auch vor Mord
nicht zurückschreckt. Das Beängstigende an diesem Gleichnis menschlicher
Gesellschaft ist die Tatsache, dass diese Jungen keineswegs Monstren oder
Verbrecher sind. Jeder von ihnen ist in irgendeiner Jungenklasse der Welt zu
finden. (Textrecht: Fischer Taschenbuch Verlag, Ausgabe 1983)
Persönlicher Leseeindruck: Als
vor Wochen die ersten Corona-Maßnahmen und damit ein umfassender sozialer
Shutdown verkündet wurde, habe ich die etwas häufigeren leisen Stunden zu Hause
genutzt, um mich querbeet durch ein paar Podcasts zu hören. In einem davon
wurde diskutiert, wie wohl eine Gesellschaft aussehen würde, die von Kindern
aufgebaut würde, die in keinerlei Berührung mit den für uns so
selbstverständlich erscheinenden, gesellschaftlichen Regeln des Zusammenlebens
kommen würden, die unbeeinflusst von zivilisatorischen Werten, Traditionen,
Machtverhältnissen die Welt in der sie leben, selbst gestalten können. Dabei
wurde mehrfach auf William Goldings „Herr der Fliegen“ verwiesen und ich hatte
noch vage im Hinterkopf, eine uralte Ausgabe davon ungelesen im Regal stehen zu
haben. Gesucht – verschlungen – lange gegrübelt.
Kurzum: Das Büchlein hat
nachhaltigen Eindruck hinterlassen, vermutlich auch gerade, weil ich es in
einer Zeit gelesen habe, in der sich Leute ernsthaft im Supermarkt um Klopapier
stritten, während andere sich den Mund fusselig redeten in dem Bemühen,
Solidarität und Zusammenhalt von schön klingenden Schlagwörtern zu
Richtungsweisern werden zu lassen.
Was passiert, wenn eine Gruppe
Kinder auf einer einsamen Insel strandet? Die jungen Protagonisten überraschen
zuerst ein wenig durch ihre sorglose Kühnheit: eine einsame Insel für sie
allein, ein großer Spielplatz, ein Abenteuer! – nur wenige Gedanken werden an
die Erwachsenen verschwendet, die den Flugzeugabsturz allesamt nicht überlebt
haben. Das Glück im Unglück scheint übergroß.
Dass aber auch auf einer von
Kindern regierten Insel Regeln gebraucht werden, um die Chance zu vergrößern
gefunden zu werden und ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, zeigt sich
schnell. Sie wählen den etwas draufgängerischen Ralph als Anführer – völlig
demokratisch, organisieren einen Schichtbetrieb, der ein Signalfeuer am Laufen
halten soll und kümmern sich um die Frischwasserversorgung.
„Wir müssen hier weg.“ „Wie weg?“ „Sehen, dass sie uns endlich finden und abholen.“ Zum ersten Mal an diesem Tag und trotz der wachsenden Finsternis musste Ralph kichern. „Im Ernst“, flüsterte Piggy. „Wenn wir nicht bald hier rauskommen, schnappen wir über.“ „Fehlt nicht mehr viel!“„Total bekloppt!“Aus: Herr der Fliegen von William Golding, Seite 134
Der etwas ältere, geltungssüchtig-cholerische
Jack stellt Ralphs Führung in Frage, rekrutiert eine Gruppe Jäger, die
bewaffnet durch den Dschungel streift, um Tiere zu jagen. Seite um Seite kann
der Leser verfolgen, wie die kindlichen
Protagonisten immer weiter der Angst und dem Wahn verfallen, bis ihr Blutrausch
nicht mehr bei den Wildschweinen der Insel Halt macht und ihre einstigen
Freunde zu Gejagten werden. Grausige Rituale, Brutalität und Barbarei bestimmen
den Alltag auf der Insel, der zum gelebten Albtraum wird.
Wie schnell die Dynamik der
Gruppe sich verselbstständigt und sich der moralische Kompass, von dem wir nur allzu
gerne annehmen, er sei fest in uns verankert, in heiße Luft und ein trauriges
Häufchen Heuchelei auflöst, hat Golding auf einzigartige Weise skizziert. Hervorragend
gelöst finde ich dabei das Ende, das an Tragikomik nicht zu überbieten ist.
Sprachlich ist der Roman „Herr
der Fliegen“ unaufgeregt und unaufregend, authentisch, schnörkellös, während er
der Rohheit, die in uns allen wohnt, den Spiegel vorhält.
Er hörte sie durch das Unterholz brechen, und zu seiner Linken war das heiße, helle Donnern des Feuers. Er vergaß seine Wunden, seinen Hunger, seinen Durst und war nur noch Angst; hoffnungslose Angst auf fliegenden Füßen, die durch den Wald dem offenen Strand entgegenstürzte.Aus: Herr der Fliegen von William Golding, Seite 162
Fazit: Der
spätere britische Nobelpreisträger William Golding konfrontiert den Leser in „Herr
der Fliegen“ mit dem Bösen, das in uns allen steckt und nur darauf wartet, dass
unsere zivilisierte Maske für einen Augenblick verrutscht. Spannend,
kurzweilig, gespickt mit wenigen, aber eindrücklichen Ekelmomenten und kleinen Schockern ist „Herr
der Fliegen“ eine lesenswerte Allegorie dafür, dass Mensch-Sein und
Menschlichkeit zwei Paar Schuhe sind, und man eines davon, nur allzu leicht abstreifen
kann.
Herr der Fliegen von William
Golding
Originaltitel: Lord of the Flies | Übersetzung: Hermann Stiehl | Fischer Taschenbuch, Ausgabe 1983 | ISBN: 9783596214624
Mittlerweile in frischer Aufmachung – sowie neu übersetzt von Peter Torberg – bei Fischer Taschenbuch erschienen.