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[Rezension] Herr der Fliegen von William Golding

Mittwoch, 17. Juni 2020

Rezension Herr der Fliegen von William Golding www.nanawhatelse.at


"Das ist hier wie in so 'ner Abenteuergeschichte."
Aus: Herr der Fliegen von William Golding, Seite 30

Kleine Warnung vorab: Bereits der Klappentext spoilert ungeniert und auch ich hätte besser früher aufhören sollen. Steinigt mich bitte nicht, das Buch ist trotzdem 1) anders und 2) als ihr denkt.

Das schreibt der Verlag: Eine Gruppe englischer Schuljungen gerät infolge eines Flugzeugunfalls auf eine unbewohnte Insel im Pazifischen Ozean. Kein Erwachsener überlebt. Zunächst erscheint der Verlust zivilisatorischer Ordnungsprinzipien leicht zu bewältigen: auf der Insel gibt es Wasser, Früchte, sogar wilde Schweine, die erlegt werden können. Ralph lässt Hütten bauen, erkundet die Insel, richtet einen Wachdienst für das Signalfeuer ein. Der gute Anfang aber führt in eine Krise, die bald diabolische Formen annimmt. Aus der Jagd wird blutiges Schlachten – die Jäger und die Hüter des Feuers geraten in einen Kampf um Leben und Tod. Die Gemeinschaft zerfällt, Terror und barbarische Primitivität gipfeln in Machtrausch, der auch vor Mord nicht zurückschreckt. Das Beängstigende an diesem Gleichnis menschlicher Gesellschaft ist die Tatsache, dass diese Jungen keineswegs Monstren oder Verbrecher sind. Jeder von ihnen ist in irgendeiner Jungenklasse der Welt zu finden. (Textrecht: Fischer Taschenbuch Verlag, Ausgabe 1983)


Persönlicher Leseeindruck: Als vor Wochen die ersten Corona-Maßnahmen und damit ein umfassender sozialer Shutdown verkündet wurde, habe ich die etwas häufigeren leisen Stunden zu Hause genutzt, um mich querbeet durch ein paar Podcasts zu hören. In einem davon wurde diskutiert, wie wohl eine Gesellschaft aussehen würde, die von Kindern aufgebaut würde, die in keinerlei Berührung mit den für uns so selbstverständlich erscheinenden, gesellschaftlichen Regeln des Zusammenlebens kommen würden, die unbeeinflusst von zivilisatorischen Werten, Traditionen, Machtverhältnissen die Welt in der sie leben, selbst gestalten können. Dabei wurde mehrfach auf William Goldings „Herr der Fliegen“ verwiesen und ich hatte noch vage im Hinterkopf, eine uralte Ausgabe davon ungelesen im Regal stehen zu haben. Gesucht – verschlungen – lange gegrübelt.

Kurzum: Das Büchlein hat nachhaltigen Eindruck hinterlassen, vermutlich auch gerade, weil ich es in einer Zeit gelesen habe, in der sich Leute ernsthaft im Supermarkt um Klopapier stritten, während andere sich den Mund fusselig redeten in dem Bemühen, Solidarität und Zusammenhalt von schön klingenden Schlagwörtern zu Richtungsweisern werden zu lassen.




Was passiert, wenn eine Gruppe Kinder auf einer einsamen Insel strandet? Die jungen Protagonisten überraschen zuerst ein wenig durch ihre sorglose Kühnheit: eine einsame Insel für sie allein, ein großer Spielplatz, ein Abenteuer! – nur wenige Gedanken werden an die Erwachsenen verschwendet, die den Flugzeugabsturz allesamt nicht überlebt haben. Das Glück im Unglück scheint übergroß.
Dass aber auch auf einer von Kindern regierten Insel Regeln gebraucht werden, um die Chance zu vergrößern gefunden zu werden und ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, zeigt sich schnell. Sie wählen den etwas draufgängerischen Ralph als Anführer – völlig demokratisch, organisieren einen Schichtbetrieb, der ein Signalfeuer am Laufen halten soll und kümmern sich um die Frischwasserversorgung.


„Wir müssen hier weg.“ „Wie weg?“ „Sehen, dass sie uns endlich finden und abholen.“ Zum ersten Mal an diesem Tag und trotz der wachsenden Finsternis musste Ralph kichern. „Im Ernst“, flüsterte Piggy. „Wenn wir nicht bald hier rauskommen, schnappen wir über.“ „Fehlt nicht mehr viel!“
„Total bekloppt!“
Aus: Herr der Fliegen von William Golding, Seite 134

Doch nach und nach, zunächst in scheinbar harmlosen Streichen, in kleinen boshaften Gesten und präpubertären Machtkämpfen vollzieht sich ein shift in der jungen Gemeinschaft, der in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale mündet.
Der etwas ältere, geltungssüchtig-cholerische Jack stellt Ralphs Führung in Frage, rekrutiert eine Gruppe Jäger, die bewaffnet durch den Dschungel streift, um Tiere zu jagen. Seite um Seite kann der Leser verfolgen, wie  die kindlichen Protagonisten immer weiter der Angst und dem Wahn verfallen, bis ihr Blutrausch nicht mehr bei den Wildschweinen der Insel Halt macht und ihre einstigen Freunde zu Gejagten werden. Grausige Rituale, Brutalität und Barbarei bestimmen den Alltag auf der Insel, der zum gelebten Albtraum wird.




Wie schnell die Dynamik der Gruppe sich verselbstständigt und sich der moralische Kompass, von dem wir nur allzu gerne annehmen, er sei fest in uns verankert, in heiße Luft und ein trauriges Häufchen Heuchelei auflöst, hat Golding auf einzigartige Weise skizziert. Hervorragend gelöst finde ich dabei das Ende, das an Tragikomik nicht zu überbieten ist.
Sprachlich ist der Roman „Herr der Fliegen“ unaufgeregt und unaufregend, authentisch, schnörkellös, während er der Rohheit, die in uns allen wohnt, den Spiegel vorhält.


Er hörte sie durch das Unterholz brechen, und zu seiner Linken war das heiße, helle Donnern des Feuers. Er vergaß seine Wunden, seinen Hunger, seinen Durst und war nur noch Angst; hoffnungslose Angst auf fliegenden Füßen, die durch den Wald dem offenen Strand entgegenstürzte.
Aus: Herr der Fliegen von William Golding, Seite 162

Fazit: Der spätere britische Nobelpreisträger William Golding konfrontiert den Leser in „Herr der Fliegen“ mit dem Bösen, das in uns allen steckt und nur darauf wartet, dass unsere zivilisierte Maske für einen Augenblick verrutscht. Spannend, kurzweilig, gespickt mit wenigen, aber eindrücklichen Ekelmomenten und kleinen Schockern ist „Herr der Fliegen“ eine lesenswerte Allegorie dafür, dass Mensch-Sein und Menschlichkeit zwei Paar Schuhe sind, und man eines davon, nur allzu leicht abstreifen kann.


Herr der Fliegen von William Golding

Originaltitel: Lord of the Flies | Übersetzung: Hermann Stiehl | Fischer Taschenbuch, Ausgabe 1983 | ISBN: 9783596214624
Mittlerweile in frischer Aufmachung – sowie neu übersetzt von Peter Torberg – bei Fischer Taschenbuch erschienen.