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[Rezension] Alles, was ich sehe von Marci Lyn Curtis

Dienstag, 19. April 2016

Foto: www.nanawhatelse.at, Bildrechte (Cover): Königskinder Verlag

„So. Ich muss alles über dich wissen.
Fangen wir mit dem Wichtigsten an: Was ist dein absolutes Ding?“
„Mein absolutes Ding?“
„Ja. Jeder hat ein Ding, das absolut voll seins ist.“
„Und was soll das sein?“
„Du weißt schon, das, was dich am allerglücklichsten macht?
Das Ding, ohne das du nicht du wärst? Dein absolutes Ding.“
aus: Alles, was ich sehe von Marci Lyn Curis, Seite 55. Zitatrecht: Königskinder Verlag

Der Klappentext: Maggie hasst ihr neues Leben als Blinde. Sie will keine tapfere Kranke sein, und auf Unterricht von anderen Blinden kann sie gut verzichten. Dann plötzlich passiert es: Sie kann wieder sehen! Nur einen Ausschnitt der Welt, genauer: einen zehnjährigen Jungen namens Ben. Mit Hilfe des altklugen und hinreißenden Jungen scheint sie einen Teil ihres alten Lebens zurückzubekommen. Und Bens großer Bruder Mason ist Sänger in Maggies Lieblingsband. Und ziemlich attraktiv. Doch er lässt sie abblitzen, weil er denkt, dass Maggie ihre Blindheit vortäuscht – was ja irgendwie stimmt. Dann kommt heraus, warum sie ausgerechnet Ben sehen kann. (Zitatrecht: Königskinder Verlag)

„Du liest also keine Bücher über Drachen?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Zauberer?“ Ich verdrehte die Augen.
„Mystiker? Astronauten?“ Ich knurrte.
„Mann, Thera. Das ist doch kein Leben“, sagt er. Er lächelte dabei.
aus: Alles, was ich sehe von Marci Lyn Curis, Seite 42. Zitatrecht: Königskinder Verlag

Rezension: Wie geht man damit um, wenn von einem Tag auf den anderen nichts mehr so ist, wie es war? Wie lebt man weiter, wenn man seine Selbständigkeit plötzlich verliert, man seine Träume aufgeben muss und einen das Leben zwingt, ganz neue, unbekannte Wege einzuschlagen, die man eigentlich nie gehen wollte? All diesen Fragen muss sich die 16-jährige Maggie stellen, während ihre Ziele aufgrund ihrer Erblindung in unerreichbare Nähe zu rücken scheinen. Und nicht nur sie selbst, auch ihre Familie und Freunde scheinen mit der Situation vollkommen überfordert zu sein. Die Autorin fängt diese Schockstarre der Betroffenen, diese Ohnmacht unglaublich gut ein. Die Ratlosigkeit. Die Betroffenheit. Die Frustration. Die Gefühlslage der jungen Protagonistin Maggie schwankt zwischen Lethargie und unglaublicher Wut. Das ändert sich erst als der zehnjährige Ben in ihr Leben tritt und dieses gehörig auf den Kopf stellt. Ben ist der eigentliche Star der Geschichte: unglaublich charmant und witzig bis zum Gehtnichtmehr, herrlich frech und mit so viel kindlicher Naivität ausgestattet, dass man ihn lieben muss. Und ja, ich meine lieben, nicht mögen. Er selbst hat nicht das einfachste Los gezogen, denn er ist seit seiner Geburt körperlich schwer gehandicapt, sprüht aber dennoch vor Begeisterung und Tatendrang und positiver Energie. Bens göttlicher Humor und seine Offenherzigkeit stecken schlussendlich auch Maggie, die er nach einer Videospielhelding zu Thera umtauft, an – und es entspinnt sich die Geschichte einer einzigartigen Freundschaft. Der Roman gibt einem Einblicke in das Leben eines blinden Menschen – als Leser ist man vollkommen baff und schockiert, welche alltäglichen, selbstverständlichen Dinge plötzlich zum Problem werden können, wenn man nichts sieht. Die Bushaltestelle zwei Häuserblocks entfernt, könnte sich genauso gut am anderen Ende der Welt befinden. Wenn nicht alles an seinem Platz steht, fällt man unweigerlich darüber, weshalb man sich permanent blaue Flecken und Schrammen zuzieht. Und wie findet man sich im Drogeriemarkt auf der Suche nach Tampons zurecht, ohne in peinliche Situationen zu geraten? Ohne Augenlicht ist man aufgeschmissen. Und davon erzählt dieser Roman vollkommen ungeschönt. Die Message dieses Jugendbuchs ist aber ganz klar eine Hoffnung machende, nämlich, dass egal, wie schlimm das Schicksal ist, für das du ausgelost wurdest, es immer einen Weg gibt, zu lernen mit ihm umzugehen und trotz aller Widrigkeiten das Leben zu lieben und glücklich zu sein. Man aber auch das verdammte Recht hat, auch mal wütend zu sein. Weil das einfach menschlich ist.

„Ich glaube, du verheimlichst mir etwas, meine Schöne.“
Ah. Darauf wusste ich keine Antwort. Vor allem, weil ich jemandem, der mich gerade „meine Schöne“ genannt hatte, nicht ernsthaft widersprechen konnte. Selbst wenn das Kompliment von einem kleinen Jungen stammte.
aus: Alles, was ich sehe von Marci Lyn Curis, Seite 25. Zitatrecht: Königskinder Verlag

Das Knistern zwischen Maggie und Mason, das bereits im Klappentext angedeutet wird, bestimmt die Story keinesfalls. Diese sehr süße, wenn auch etwas vorhersehbare Liebesgeschichte ist eine von vielen Nebenhandlungen, die „Alles, was ich sehe“ zu einem runden außergewöhnlichen Ganzen machen, das die gesamte Bandbreite der Gefühlspalette gut zu nutzen weiß. In diesem Roman vereint sich das Beste aller Genres, weshalb sich sowohl Fans humorvoller Jugendbücher und (Paranormal Contemporary) Romance als auch Liebhaber tragikomischer Familiengeschichten mit diesem sehr wohl fühlen werden. 

Wem „Glück ist eine Gleichung mit 7“ von Holly Goldberg Sloan (Hanser) gefallen hat, der wird „Alles, was ich sehe“ von Marci Lyn Curtis nicht aus den Händen legen können und diese bezaubernde und mitreißende Geschichte noch lange in sich tragen.

„Mist.“ Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: „Die Hübschen haben alle einen Makel. Es ist wirklich tragisch.“ Ich kniff die Augen zusammen. „Wie bitte?“ „Doch, ehrlich. Ich war mal total verknallt in Jessica Baylor. Die saß in Mathe neben mir. Sie war echt heiß. Glänzendes Haar und glänzende Augen und glänzendes Lächeln. Und dann? Erzählt sie mir, dass sie Kuchen hasst, und für Kuchenhasser hab ich null Verständnis.“
aus: Alles, was ich sehe von Marci Lyn Curis, Seite 17. Zitatrecht: Königskinder Verlag

Persönliches Fazit: Es gibt Bücher, die haben MEHRWERT. Man bekommt nicht nur ein Buch und damit ein paar vergnügliche Lesestunden, sondern einen neuen Blickwinkel gratis dazu. „Alles, was ich sehe“ ist eines dieser Bücher. Marci Lyn Curtis hat einen unterhaltsamen, stimmungsvollen und berührenden Roman geschrieben, der trotz paranormaler Aspekte vor allem eines ist: authentisch. 

Man muss „Alles, was ich sehe“ gelesen haben. Weil einem sonst ein Stück grandioser Jugendliteratur entgeht. Und Ben. Den man einfach lieben muss.


Ich vergebe 5 von 5 Gerrys für diesen Roman, der mich vollkommen platt gemacht hat. 
Im positiven Sinn. Im positivsten aller Sinne.



Alles, was ich sehe von Marci Lyn Curtis | Originaltitel: The One Thing | Übersetzung: Nadine Püschel | Königskinder Verlag, 2016 | Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 432 Seiten | ISBN-13: 978-3551560223