Foto: www.nanawhatelse.at, Bildrechte (Cover): Wunderlich |
Wie von seinem Vorgesetzten angewiesen und seinem Gewerkschaftsvertreter empfohlen, hatte Sparkes eine der Psychologinnen auf der Liste kontaktiert und sechzig mühselige Minuten mit einer gleichermaßen übergewichtigen wie unqualifizierten Frau verbracht, die ständig davon faselte, er müsse seine Dämonen bekämpfen. „Sie sitzen auf Ihrer Schulter, Bob. Können Sie sie fühlen?“, fragte sie allen Ernstes und klang dabei eher wie eine der Irren vom Blackpool Pier als wie ein Profi. Er hörte ihr höflich zu und kam zu dem Schluss, dass sie mehr Dämonen besaß als er. Er ging nie wieder hin.Seiten 307-308, Textrechte: Wunderlich
Der Klappentext:
Die Frau
Jean Taylor führt ein ganz normales Leben in einer englischen Kleinstadt: Sie hat ein hübsches Haus und einen netten Ehemann. Glen und sie führen eine gute Ehe.
Der Mann
Dann kommt der Tag, der alles ändert: Sie nennen Glen jetzt das Monster. Er soll etwas Unsagbares getan haben. Und Jeans heile Welt zerbricht.
Die Witwe
Jetzt liegt Glen auf dem Friedhof, und Jean ist frei. Frei, das Spiel endlich nach eigenen Regeln zu spielen … Textrechte: Wunderlich
Rezension: Die kleine Bella wurde entführt. Am hellichten Tag, mitten aus dem Vorgarten eines Wohnhauses. Die Spuren führen in mehrere Richtungen – und aus verschiedenen Richtungen wird auch ermittelt.
Bob Sparkes, der Ermittler, der mit dem Fall Bella betraut wird, überschreitet in seinen Bemühungen, das kleine Mädchen zu finden, so manche Grenze. Sein Versagen verfolgt ihn Schritt auf Tritt, die Kapitel, die aus seiner Sicht erzählt werden, lesen sich wie ein Psychogramm eines erfolglosen Rächers. Kate Waters, aufstrebende Journalistin und Karrierefrau setzt alles daran, ein Interview mit der Witwe des Hauptverdächtigen zu bekommen. Zugunsten einer schreienden Schlagzeile geht die moralische Verantwortung der Journalistin mehr als einmal vor die Hunde. Besonders perfide und stellenweise schlichtweg verwerflich wird das Vorgehen der Presse beschrieben. Ein loser Verdacht landet über Hörensagen und Munkelei in einer Redaktion und wird als Statement in Großbuchstaben auf der Titelseite eines Blattes veröffentlicht – zusammen Fotos und Namen – schließlich muss der Sensationslust genüge getan werden. Ohne dass je ein Richter ein Urteil fällt, werden so Schuldsprüche erteilt, die unumkehrbar sind. Der eigene Name wird zum Stigma. Dieser grausame Schneeballeffekt, der von der Presse mit kalter Berechnung losgetreten wird, ist ein ganz zentrales Motiv des Romans, was ihn authentisch und dynamisch wirken lässt, gleichzeitig jedoch die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Untat kapitelweise völlig ablenkt. Auch die mehr schlecht als recht verborgene Hassliebe zwischen Polizei und Presse, die sich zwischen gegenseitiger Hilfestellung und gegenseitigem Behindern abspielt, wird in Die Witwe thematisiert. Die Presse ist in diesem Roman die zentrale Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Täter, zwischen Polizei und wütender Masse. Und sie kommt dabei nicht gut weg – im Gegenteil, sie präsentiert sich als wölfischer Schurke, der sich nicht mal die Mühe macht, einen Schafspelz umzulegen. Dawn Elliot, die Mutter der kleinen Bella ist ein verwahrlostes Naivchen, das sich nur zu leicht lenken lässt und zum Spielball zwischen Ermittlern und Sensationspresse wird. Ihr Charakter macht einen enorm großen Wandel durch. Von der jungen, überforderten Mutter hin zu einer Frau, die die Spielregeln der Polizei und des Klatschpressewesens für ihre eigenen Zwecke zu nutzen lernt. Und Jean Taylor, die Witwe des angeblichen Mädchenentführers, des Monsters, dessen Gesicht monatelang durch die Medien spukte, recherchiert auf eigene Faust…
Der Roman ist eine Montage, ein Mosaik aus Eindrücken. Aus vielen unterschiedlichen Perspektiven bekommt man Bruchstücke eines Geschehens erzählt; kleine Fetzen, die man nach und nach selbst zusammensetzen muss. Hat man ursprünglich noch das Gefühl, genau zu wissen, wo die Linie zwischen Gut und Böse verläuft, ist man am Ende sicher, dass aus dieser Geschichte jeder als Opfer aussteigt. Das Herausragende an Die Witwe ist definitiv die Erzählweise, die einen konzentrierten Leser erfordert und literarische Ansprüche erfüllt. Neben der grandiosen Form bleibt der Inhalt jedoch leider zurück. Unplausible Handlungsverläufe und ein gegen Ende hin stark abnehmendes Spannungsniveau sind neben dem unausgereift wirkenden Ende nur einige der kleinen Kritikpunkte, die angeführt werden müssen. Dennoch konnte der Roman durch seine formale Gemachtheit und einem starken Konzept überzeugen, sowie mit ausgetüftelten Charakteren auftrumpfen.
Persönliches Fazit: Die Witwe ist ein atmosphärischer Kriminalroman, der durch gelungene Perspektivierung und einzigartige Charaktere überzeugt, gegen Ende hin jedoch leider rapide an Spannung verliert.
Ich vergebe 3 von 5 Gerrys und bedanke mich bei Lovelybooks.de und dem Wunderlich Verlag für eine spannende Leserunde!
Die Witwe von Fiona Barton | Originaltitel: The Widow | Übersetzung: Sabine Längsfeld | Wunderlich 2016 | Paperback, 432 Seiten | ISBN: 978-3-8052-5097-9