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[Rezension] Die Magie der kleinen Dinge von Jessie Burton

Samstag, 29. August 2015

Foto: Martin Herbst Photography für www.nanawhatelse.at, Bildrechte (Cover): Limes Verlag

Der Klappentext: Die junge Nella wird mit dem Amsterdamer Handelsmann Johannes Brandt verheiratet. Als sie sein herrschaftliches Haus an der Herengracht zum ersten Mal betritt, schlägt ihr kalte Abneigung vonseiten ihrer neuen Familie entgegen. Nur das Hochzeitsgeschenk spendet ihr Trost: ein Puppenhaus, das eine exakte Nachbildung ihres neuen Zuhauses ist. Doch bald werden Nella mysteriöse kleine Nachbildungen ihrer neuen Familienmitglieder geschickt – Hinweise auf das, was diese verbergen. Nella beginnt zu ahnen, dass sich hinter der perfekten Fassade der Brandts tiefe Abgründe verbergen – sowie dunkle Geheimnisse, die sie alle in ihren Sog ziehen werden …

Sie versucht, ihre Aufgewühltheit zwischen den Handflächen zu zerdrücken. Wie soll ich anfangen, dich zu lieben? – diese gewaltige Frage, die sich einfach nicht beiseiteschieben lässt, geht ihr unablässig im Kopf herum, während sie ihn betrachtet.
aus: Die Magie der kleinen Dinge von Jessie Burton, Seite 102. Bild- und Textrechte: Limes Verlag

Normalerweise fasse ich den Inhalt eines Romans gerne in meinen eigenen Worten zusammen. Aber zum einen, war es genau dieser geniale Text, der meine Neugierde weckte (und der hoffentlich auch euch neugierig werden lässt) und zum anderen, habe ich das Gefühl, dass ich keine adäquate Zusammenfassung für euch tippen könnte, ohne Gefahr zu laufen, zu viel zu verraten. Deshalb sei an dieser Stelle nur so viel gesagt: Der Roman hält, was der spannende Klappentext verspricht!

Nella wendet sich zum Gehen. „Hier, Madame“, ruft Cornelia sie zurück. Sie streckt ihr ein heißes Brötchen mit Butter hin. Nella nimmt es. In diesem Haus kommen Friedensangebote in den seltsamsten Formen vor.

aus: Die Magie der kleinen Dinge von Jessie Burton, Seite 76. Bild- und Textrechte: Limes Verlag

Idee: Die junge Nella heiratet den um viele Jahre älteren, ihr nur flüchtig bekannten Johannes Brandt: ein charmanter, gebildeter und hoch angesehener Kaufmann Amsterdams. Als sie das Dorf ihrer Kindheit verlässt, und aufbricht in eine Zukunft als Herrin eines der mächtigsten Häuser der Niederlande, muss sie allerdings bald erkennen, dass ihre Schwägerin Marin nicht gedenkt, die Zügel aus der Hand zu geben und ihr frisch angetrauter Ehemann Geheimnisse hat, die nicht nur ihre junge Ehe vor eine harte Probe stellen, sondern die Familie Brandt für immer ruinieren könnten. Die makellose Fassade beginnt zu bröckeln. Während Nella bemüht ist, ihrer neuen Familie beizustehen und versucht, ihre skandalösen Entdeckungen zu vertuschen, weiß bereits jemand um die Geschehnisse rund um die Familie Brandt: Regelmäßig treffen Päckchen für Nella ein mit Figuren für ihr Puppenhaus, welches sie als Hochzeitsgeschenk von ihrem Mann bekommen hat. Die Püppchen sind getreue Abbildungen all jener, die im Hause Brandt ein- und ausgehen. Und jedes dieser Püppchen offenbart, dass der Miniaturist nicht nur ein begnadeter Künstler, sondern auch ein genauer Beobachter ist… History trifft auf Mystery!

„Wenn man einen Menschen wirklich kennt, Nella, wenn man hinter den Liebreiz und das Lächeln blickt, wenn man den Zorn und die klägliche Angst sieht, die jeder von uns in sich verbirgt, dann hilft nur noch Vergebung. Und Marin… ist kein Mensch, der vergibt.“
aus: Die Magie der kleinen Dinge von Jessie Burton, Seite 104. Bild- und Textrechte: Limes Verlag

Umsetzung: Was kann man über einen Roman sagen, der einen sprachlos zurückgelassen hat?
Der Klappentext verspricht sehr viel: eine geheimnisvolle Familiengeschichte im Amsterdam des ausgehenden 17. Jahrhunderts, das von Heuchelei, Verrat und religiöser Scheinfrömmigkeit und Angstmache regiert wird. Die historischen Aspekte dieses Romans wurden genauestens recherchiert, weshalb während des Lesens ein authentisches, ungeschöntes und dennoch absolut faszinierendes Stimmungsbild der frühneuzeitlichen Niederlande heraufbeschworen wird. Die Darstellung der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse – der respektlose Umgang mit farbigen Menschen, das unhinterfragte Diktat der Kirche, die Überwachung jedes einzelnen durch jeden einzelnen – offenbart den Irrsinn dieser Zeit und ließ ein beklemmendes Gefühl bei mir zurück. Die Familiengeschichte ist brillant durchdacht, Skandale und Tragödien, Freud und Leid reichen sich hier die Hand. Ich würde diesem Buch jedoch niemals die Stempel „Historischer Roman“ oder „Familientragödie“ aufdrücken wollen, da ihm diese keinesfalls gerecht werden könnten. Auch mystisch-spannende Elemente ließen dieses außergewöhnliche Buch zu einem Pageturner der Superlative werden. 

Die Kirche ist voll besetzt; die Lebenden stecken ihr Terrain im Himmel ab.
aus: Die Magie der kleinen Dinge von Jessie Burton, Seite 136. Bild- und Textrechte: Limes Verlag

Der einzigartige und unnachahmliche Schreibstil der Autorin trug sein Übriges dazu bei. Äußerst detailliert und beinahe poetisch wird aus einer Außenperspektive das Geschehen in der Zeitform des Präsens dargestellt, was das Gefühl von Unmittelbarkeit verstärkt und das Leitmotiv des Beobachtet-Werdens nochmals betont. Vielleicht benötigt der/die ein oder andere Leser/in ein wenig Zeit, um in den sehr speziellen Stil und das Erzählte hineinzufinden. Ist man jedoch erstmal in der Geschichte angekommen, gibt es kein Halten mehr. Dieses Debüt hat mich in seinen Bann gezogen, mich gefesselt, schockiert, berührt, fassungslos gemacht und – absolut überzeugt!

Die Fassade von Amsterdam kann nur dank dieser gegenseitigen Überwachung aufrechterhalten werden, die aufmerksame Nachbarschaft, die die Seele eines Menschen erstickt.
aus: Die Magie der kleinen Dinge von Jessie Burton, Seite 354. Bild- und Textrechte: Limes Verlag

Gestaltung: Ohne zu übertreiben, darf ich behaupten, dass Die Magie der kleinen Dinge eines der schönsten Bücher in meinem Regal ist. Das wundervoll gestaltete Cover enthält bereits zahlreichte Hinweise auf die rätselhaften Geschehnisse rund um die Kaufmannsfamilie Brandt. Auch wenn man ein Buch NIE NIE NIE nach dem Cover beurteilen sollte, muss ich gestehen, dass ich in dieses bereits verliebt war, noch bevor ich es aufgeschlagen hatte. Äußerst hochwertig gebunden und mit einem seidigen, burgunderroten Lesebändchen versehen, lässt die Aufmachung dieses Buches keine Wünsche offen.

Foto: Martin Herbst Photography für www.nanawhatelse.at, Bildrechte (Cover): Limes Verlag

„Sie kennen einander schon sehr lange, und manchmal ist es schwer,
einen Menschen zu lieben, den man zu gut kennt.“
aus: Die Magie der kleinen Dinge von Jessie Burton, Seite 104. Bild- und Textrechte: Limes Verlag

Fazit: Die Magie der kleinen Dinge ist eines jener Bücher, die ich vermutlich nie müde werde, weiterzuempfehlen. Jessie Burtons Debüt ist ein außergewöhnliches Stück Literatur, das unter die Haut geht und seinesgleichen sucht.

Ich vergebe 4,5 Gerrys für Die Magie der kleinen Dinge von Jessie Burton. 
Meine Leseempfehlung!

Die Magie der kleinen Dinge von Jessie Burton | Originaltitel: The Miniaturist | Übersetzung: Karin Dufner
Limes, 2015 | Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 480 Seiten | ISBN: 978-3-8090-2647-1