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[Rezension] In deinem Licht und Schatten von Louisa Reid

Montag, 11. Mai 2015

Foto: www.nanawhatelse.at, Bildrechte (Cover): FJB

Er lässt von mir ab und geht auf sie los. Die üblichen Erniedrigungen: Versagerin. Schande. Made. Abschaum. Ich halte mir die Ohren zu und renne hinaus und nach oben. Ich wünschte, ich würde bleiben. Eines Tages werde ich diese Bürste und den Riemen verstecken. Ich werde ihm seine Waffen aus der Hand nehmen. Aber noch lasse ich zu, dass meine Schwester die Prügel einsteckt, die für mich bestimmt sind. 
aus: In deinem Licht und Schatten von Louisa Reid, Seite 98. Textrechte: FJB


Ein klein wenig zum Inhalt: Deine Eltern sind anständige Leute. Jeder kennt den Dorfpfarrer und seine Frau als immer-freundliche Menschen, als Menschen Gottes. Doch während die Leute deinem Vater lauschen, wie er predigt und vom Himmel spricht, weißt du, was hinter der Fassade passiert. Hinter den Türen in dem Haus, in dem sie dich und deine Zwillingsschwester einsperren. Ob es einen Himmel gibt? Du bist dir nicht sicher. Aber du weißt, dass die Hölle existiert. Und zwar auf Erden. 


Meine Großmutter hatte mich ermahnt, niemals zu hassen.
Wenn man hasst, verliert man sich selbst.
aus: In deinem Licht und Schatten von Louisa Reid, Seite 206. Textrechte: FJB


Idee: Hephzi und Rebecca sind Zwillingsschwestern und werden von der Mutter unterrichtet. Das Leben außerhalb des Pfarrhauses und der Kirche kennen sie nur noch von Erinnerungen an Tage, die mittlerweile wie Träume erscheinen und von sehnsuchtsvollen Blicken aus dem Fenster. Als sich ihnen schließlich die Gelegenheit bietet, eine öffentliche Schule zu besuchen, scheint für sie der Moment gekommen, der Hölle ihres Elternhauses zu entfliehen, in dem die Wände sich Geschichten über Leid, Scham und Seelenschmerz zu erzählen wüssten. Während die hübsche Hephzi bald Freunde findet und die Blicke der Jungs auf sich zieht, vereinsamt ihre Schwester Reb, die unter dem Treacher-Collins-Syndrom leidet, immer mehr. Es scheint als hätte Hephzi einen Weg gefunden, um Herabwürdigung, Prügel und Missbrauch zu entkommen. Wenn Vaters Wut nun Reb mit doppelter Wucht trifft, verschließt Hephzi die Augen, flüchtet in ihr neues Leben und überlässt ihre Schwester dem unbändigen Zorn des Pfarrers. Bücher sind zu Hause verboten und so kann Reb in ihrer Einsamkeit nur noch dann wirklich leben, wenn sie in den gestohlenen Minuten in der Schulbibliothek in Geschichten versinken und ihr Elend vergessen darf. Doch als der Vater erfährt, dass Hephzi sich heimlich mit einem Jungen trifft, erfahren die beiden Schwestern, dass die Hölle, durch die sie bereits jahrelang gegangen sind, nur ein Spaziergang war, im Vergleich zu dem, was sie noch erwartet. 


Wie Mühlsteine reiben meine Eltern an ihr, umkreisen sie, stoßen sie, bestrafen sie für etwas, von dessen Existenz wir gar nichts wissen. Reb wird mit jedem Jahr ein bisschen kleiner, als ob immer mehr von ihr abbröckelt. Eines Tages wird vielleicht nichts mehr übrig sein, nur Staubflocken.
aus: In deinem Licht und Schatten von Louisa Reid, Seite 98. Textrechte: FJB


Umsetzung: Es wird abwechselnd aus der Sicht von Hephzi und Reb erzählt. In den Worten und Gedanken der beiden steckt so viel Liebe zum Leben, so viel Hass gegenüber den Eltern, so viel Zorn über einen nicht-helfenden Gott, dass sich dem Leser Herz und Magen gleichermaßen zuschnüren. Die Autorin entwirft das Bild einer Familie, in der es als Schande gilt, Glück zu empfinden, jedes Lachen mit erbosten Blicken im Keim erstickt wirkt und Fanatismus familiärer Normalität keinen Platz lässt. Erschreckend eindrücklich wird das Entsetzen, die Furcht, die Grausamkeit aus der Sicht der beiden Protagonistinnen geschildert, denen nichts geblieben ist – außer einander. Mit dem Leser teilen sie ihre kindlich-naiven Gedanken, die gefangen sind in dem Unvermögen Erlittenes in Worte zu fassen, eine Sprache zu finden für das Grauen, das Gott unter ihrem Dach zulässt, ohne einzuschreiten. 

Schockiert, berührt, vor Wut kochend, zu Tränen gerührt, mit tausenden unbeantwortbaren Fragen im Kopf und dennoch seltsam leer - so ließ mich dieses Buch zurück. 


Die Eltern hatten ihre eigene Meinung darüber, wer und was ich war, 
und überschütteten mich mit ihrem Abscheu wie Frau Holle die faule Tochter mit Pech.
aus: In deinem Licht und Schatten von Louisa Reid, Seite 204. Textrechte: FJB


Gestaltung: Bereits die Aufmachung deutet auf die traurig-düstere Handlung dieses Romans hin. Besonders gut gefällt mir daran, die außergewöhnliche Kombination der Motive und Farben. Denn die zierliche Frau, die auf dem Cover zu sehen ist, steht vor einem Grab. Man erwartet stumpfe Grautöne – doch nein! Dominiert wird der Buchumschlag von Türkis- und Grüntönen und knallig pinken Akzenten. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit faszinierte mich auf den ersten Blick und machte mich sofort neugierig auf dieses Buch, das nicht nur optisch in einer hohen Liga spielt. 


Das Pflegeheim ist ein Ort für Menschen, die niemand mehr haben will. Wenn man humpelt und das Gesicht schrumpelt ein, wenn einem die Stimme nur noch aus dem Mund schlurft und man nicht mehr richtig hören kann, wenn man alt ist und vergessen hat, wie man sich erinnert, landet man hier. Und dorthin schickte man mich.
aus: In deinem Licht und Schatten von Louisa Reid, Seite 118. Textrechte: FJB


Persönliches Fazit: Eine schockierende Geschichte über Liebe und Leid, Hass und Vergebung und Schwesternliebe zwischen Leben und Tod (und darüber hinaus). 

Ich darf wieder einmal eine Leseempfehlung aussprechen für ein Buch aus dem FJB-Verlag, das (wort-)gewaltig daherkommt, und den Leser mitnimmt an einen Ort, an dem man die Stille genießt, bis man sie nicht mehr aushält; an dem man Augen schreien und Münder schweigen sieht und der einem aufzeigt, wie untrennbar Liebe und Leid miteinander verflochten sein können.

Ich vergebe 4 von 5 Gerrys. 

In deinem Licht und Schatten von Louisa Reid | Originaltitel: Black Heart Blue | Übersetzung: Alexandra Ernst | Fischer FJB, 2014 

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten | ISBN-13: 978-3841421524