So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
mein eigentliches Element.
Als ich in der Buchhandlung zu "Das ganz normale Böse" von Reinhard Haller griff, jagte mir der Titel schon eine leichte Gänsehaut über den Rücken. Da das Buch aus dem Hause ECOWIN kommt, und dieser Verlag ein absoluter Garant für hervorragend recherchierte, interessante und qualitativ hochwertige Sachbücher ist, war für mich bald klar: Dieses Buch zieht in mein Bücherregal ein.
Wer dem Irrglauben aufgesessen ist, Sach- und Fachbücher müssten zwangsläufig trocken, unhandlich und sterbenslangweilig sein, der darf sich eines Besseren belehren lassen und diese Einstellung nochmals überdenken. Denn Hallers "Das ganz normale Böse" ist ein Vorzeigebeispiel spannender und dennoch unterhaltsamer Sachbücher.
"Gerade weil das Böse so bedrückend und bedrohlich, so unbegreiflich und schwer beschreibbar, so weit weit weg und doch jedem so nah ist, übt es eine starke Faszination aus. Dies hat nicht nur mit Sensationsgier zu tun, sondern mit dem Wunsch, möglichst alle Seiten des Menschen kennenzulernen, den Blick auf jene Seite der Seele, die man als deren Abgründe bezeichnet, zu werfen, und dem dem Unbeschreiblichen ein Gesicht, einen Namen zu geben."
Aufbau: Der Autor beginnt mit dem Versuch einer Erklärung: Was ist das Böse? Wie lässt es sich definieren, wie festhalten und vermessen (Wie böse ist das Böse?), wie kann man darüber urteilen? Auf einfache und verständliche Weise erklärt er aus psychologischer und medizinischer Sicht den Unterschied von bösen und kranken Taten, und dass jemand erst als böse bezeichnet werden kann, wenn dieser Böses tut. Der bloße Gedanke an Böses macht uns noch lange nichts böse; im Gegenteil: Böse Gedanken wirken psyche-reinigend und fungieren als Frust-Ventil, das tatsächlich böse Taten verhindert. Anschließend unternimmt der Autor eine Kategorisierung der verschiedenen Arten von Tätern, wobei er zwischen Tätern unterscheidet, die aufgrund von Psychosezuständen (Paranoia, Minderwertigkeitskomplexe, traumatisierende Erlebnisse in der Kindheit u.v.m.) Straftaten verüben, und jenen die unentschuldbare Taten in vollem Bewusstsein und mit BÖSEM Willen begehen. Plant der Mörder seine Tat Monate im Voraus oder handelt er im Affekt – als (mehr oder weniger) willenloses Opfer seiner überbordenden Emotionen?
Anschließend wird ein Rundumblick auf die mannigfaltigen Motive von Delinquenten unternommen, aus welchen diese sich zu ihren Taten hinreißen lassen. Reinhard Haller führt dabei nicht dutzende sondern hunderte Beispiele von Gewaltverbrechen (TW: überwiegend grausame Morde) an. Eifersucht. Wahnideen. Motivloses Handeln. Ödipus-Komplexe. Ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Sexualität. Kindheitserlebnisse, die nie verarbeitet wurden. Schweigen in der Partnerschaft. Spaß am Töten. Menschen handeln aus den unterschiedlichsten Motiven böse, und als Leser stellt man sich nicht nur einmal die Frage: Wer ist der Täter und wer das Opfer? Wenn ein Sohn, der jahrelang zusehen muss, wie seine Mutter vom Vater gedemütigt und misshandelt wird, zur Waffe greift und den Vater erschießt, ist dies – auch wenn Selbstjustiz zu keiner Zeit eine Lösung ist – für den Leser (oder zumindest für mich) ein in gewisser Weise nachvollziehbarer (wenn auch nie entschuldbarer) Schritt. Wenn eine Mutter ihrem Neugeborenen über 8 Monate mit Zigaretten Verbrennungen zuführt, dieses halb verhungern lässt und irgendwann gemeinsam mit ihrem Partner erschlägt – möchte man als Leser, diesen Tätern am liebsten selbst die Handschellen anlegen.
Dies zeigt, dass böse Taten nicht gleich böse Taten sind. Wir sind Produkte unserer Umwelt, unserer Erziehung, der Art, wie wir sozialisiert wurden. Aber sind wir auch Sklaven unserer Gene? Ist es einigen Menschen vorherbestimmt. Mörder und Verbrecher zu werden? Gibt es ein Verbrecher-Gen? Ausführlich recherchiert dokumentiert Reinhard Haller die verschiedensten Forschungsergebnisse unterschiedlicher Studien. Eine Chromosomen-Anomalie (XYY-Chromosom) trägt beispielsweise dazu bei, dass gewisse Hormone nicht richtig abgebaut werden, was zu einer erhöhten Aggressionsbereitschaft führt. Auch Studien zu Anomalien beziehungsweise Läsionen des Frontalhirns (präfrontaler Cortex), das für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist, lassen Rückschlüsse darüber zu, ob anatomischer Defekte für widerrechtliches Handeln (mit)verantwortlich sind.
Die Rechtslage ist sich in vielen Fällen uneinig über die Handhabung. Beispielsweise gelten explodierende Emotionen als Ursache für eine Straftat oft als mildernde Umstände: da der Täter nicht mehr Herr seiner selbst war. Doch die Einschätzung von psychisch kranken Menschen scheint oft eine große Schwierigkeit darzustellen. Denn der Mensch hat IMMER eine WAHL.
Schreibstil: Der Autor bietet einen wunderbaren Überblick über die philosophische und psychologische Auffassung vom Bösen, arbeitet mit konkreten Beispielen (von Jack Unterweger, über Ted Bundy, über Edmund Kemper, Fritz Haarmann bis hin zu den aktuellen Fällen wie die Amokläufe in Skandinavien und den USA, den Kriegsgräueln der NS-Zeit, den Albinomassakern u.v.m) zur Veranschaulichung von Motiven, Krankheitssymptomen und Arten der Ausführung von Verbrechen. Die Beschreibungen sind sehr bildhaft, man braucht definitiv an mancher Stelle einen guten Magen. Doch gerade die philosophischen Überlegungen, die Ausführungen darüber, was und wer böse ist, zeigen das unglaubliche sprachliche Vermögen des Autors. Fachbegriffe werden verwendet, doch sofort erläutert und erklärt. (Aha-Effekte und viel zu lernen hält dieses Buch definitiv parat!)
Universitätsprofessor Haller, der Psychiater und Psychotherapeut ist, stellt nicht nur sein umfassendes Wissen geballt und gut verständlich zur Verfügung, sondern schafft es zudem, durch das gesamte Buch einen roten Faden und Spannungsbogen zu ziehen. Besonders hat mir auch gefallen, dass jedes Kapitel mit sprechenden Namen versehen und mit ausgewählten Zitaten eingeleitet wurde.
Gestaltung: Ein wunderschön gebundenes Buch, dessen Cover die Thematik zu 100% trifft. Eine idyllische Landschaft, ein friedliches Fleckchen Wiese, in der ein Mann liegt. Allerdings mit dem Gesicht nach unten. Das leider ganz normale, oft zu spät erkannte Böse und seine Folgen – in unserer Mitte.
Fazit: Eines der besten Bücher zum Thema, die ich bisher gelesen habe. Man lernt viel über den Menschen, seine triebhafte Natur, seine Gefühlswelt, seine Art zu denken – und letztlich auch über sich selbst. Dieses Buch erhält 5 von 5 Sternchen, und gäbe es einen sechsten, so hätte es auch diesen verdient.
Das ganz normale Böse von Reinhard Haller
Gebundene Ausgabe, 219 Seiten | ECOWIN Verlag | ISBN 978-3902404800
2 Kommentare:
Hi,
da ging es mir eben ähnlich. Als ich den Titel las, dachte ich auch: ohje was kommt da jetzt wohl ^^ Ich wüsste aber nicht, ob das Buch wirklich etwas für mich ist oder ob ich dann nicht einfach brav bei meinem Krimis und Thrillern bleibe - ein Sachbuch zu diesem Thema ist mir dabei aber noch nie begegnet...
LG
P.S.: Ein wirklich schönes Bücherregal, wie hast du deine Bücher sortiert, wenn ich mal fragen darf?
Ich habe nach langem hin und her, nun auf eine Sortierung nach Autoren oder Genre verzichtet - da komm ich ja doch auf keinen grünen Zweig :-)
Ich hab sie nun nach Farben sortiert, sodass mein Regal wie ein wunderschöner Regenbogen aussieht! Ist wirklich ein Eyecatcher! :-)
LG :-)
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